Katholik und Nichtpiratenwähler – eine Antwort

Heute erhielt ich die E-Mail eines Berliners, der die Piratenpartei bei der Abgeordnetenhauswahl am 2011-09-18 nicht gewählt hatte. Grund war, was die Berliner Piraten zur Religion plakatiert und im Kaperbrief Nr. 7 formuliert hatten. Tobias ist Katholik und hat nach der Wahl einem der frischgebackenen Landtagsabgeordneten, Pavel Mayer, eine Stellungnahme geschrieben. Nun wollte er von mir wissen, was ich als »engagierter Christ« (wenn auch Freikirchler) davon halte.

Da meine Meinung vielleicht auch euch interessiert, habe ich sie hier aufgeschrieben:

Ja, ich sehe vieles genauso wie Tobias, und damit bin ich in der Piratenpartei ganz sicher nicht mehrheitsfähig. Ja, das macht mir Bauchschmerzen! Ja, ich verstehe es sehr gut, daß er die Piraten aus genau diesem Grund nicht gewählt hast! Ich war selbst bereits an dem Punkt, über einen Austritt nachzudenken. Denn es tut weh, wenn andere den ablehnen, der für mich Kern meiner Existenz und Dreh- und Angelpunkt meines Lebens ist: Jesus Christus. Warum ich dennoch in der Piratenpartei geblieben bin, steht hier.

Der Argumentation gegenüber Pavel Mayer kann ich mich durchweg anschließen. Mit zwei kleinen Unterschieden:

  • Ich sehe auch den Glauben an keinen Gott als eine Art Religion an oder – bevor die Atheisten jetzt aufschreien – als eine Weltanschauung. Der Atheist darf gern Atheist bleiben und sich dazu bekennen, wenn er es möchte. Das ist sein gutes Recht – auch wenn ich es inhaltlich bedauerlich finde – vor allem für ihn selbst. Mehr dazu habe ich in »Piraten und Religion« geschrieben.
  • Die Angabe der Religionszugehörigkeit gegenüber dem Finanzamt mag derzeit nur ein Merkmal zur Einziehung der Kirchensteuer sein. Es muß aber keinesfalls dabei bleiben. Wir sehen ja das massive Bestreben des Staates, immer mehr Daten zusammenzuführen, zu zentralisieren und über ihren eigentlichen Zweck hinaus zu nutzen. Das lehnen wir Piraten natürlich ab.

Als Freikirchler finde ich keine einzige Partei, bei der ich mich in Sachen Glauben heimisch fühlen könnte. Okay, da gibt es ein paar dediziert christliche Parteien weit, weit unterhalb der Ein-Prozent-Marke. Die dienen aber meines Erachtens nur der Beruhigung des christlichen Gewissens, »richtig« gewählt zu haben. Eine Chance zur Einflußnahme in unserer Gesellschaft haben sie aber nicht, jedenfalls nicht als Partei. Daß Christen durch das Gebet viel bewirken können, steht auf einem anderen Blatt. Hier steckt weit mehr Potential, als viele – auch viele Christen – für möglich halten.

Eine Partei ist keine Gemeinde. Parteien (plus Nichtwähler) sind ein Spiegel unserer nachchristlichen Gesellschaft. Dort irgendwo eine geistliche Heimat zu finden, erwarte ich daher gar nicht erst. Wenn viele in der Piratenpartei dem Glauben der Christen oder der Religion insgesamt kritisch gegenüberstehen und das deutlich artikulieren, dann ist das ist immerhin ehrlich. Und Ehrlichkeit ist das, was ich an den Piraten schätze!

Auch wenn ich in Fragen des Glaubens nicht mit der Flotte fahre, sondern im eigenen Segelboot gegen den Wind kreuze, so gibt mir das Dabeibleiben auf Sichtweite (und nur dies) die Möglichkeit, Flagge zu zeigen. Wie sollten Piraten denn sonst erfahren, wie Christen wirklich sind und was ihnen wichtig ist, wenn nicht durch Menschen, die dabei sind, ihren Glauben leben und das Maul aufmachen? Ohne Christen in der Piratenpartei blieben ja all die kruden Ansichten unwidersprochen, die manche über Religion im allgemeinen und über das Christsein im besonderen haben! Ach ja, und auch die Bedeutung des Rechts auf Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG muß man dem einen oder anderen noch verklickern und zum Beispiel erläutern, daß es bei Religionsfreiheit nicht darum geht, in der Öffentlichkeit nicht durch Religion behelligt zu werden.

Nun, wenn die Piratenpartei schon keinen Gebetskreis gründet, so können Nichtchristen und Christen dennoch gemeinsam an der einen oder anderen Stelle die Welt ein Stückchen besser machen. Nach dem Wahlerfolg in Berlin werden wir gerade von den Medien überrannt und von der Öffentlichkeit und den übrigen Parteien endlich wahr- und ernstgenommen. Das verbessert unsere Chancen, einen neuen Stil in die Politik zu bringen: mit Ehrlichkeit, Sachlichkeit, Transparenz und Bürgerbeteiligung.

(Hm, und warum sollten Piratenchristen eigentlich keinen Gebetskreis gründen? Mit Mumble wär’s ja möglich.)

Update (2011-10-02): Tobias mit erlaubt, seinen Namen zu nennen. Und er hat seinen Text online gestellt, so daß ich ihn (den Text) verlinken konnte.

Piraten entern Berlin: Riesenchance, Riesenherausforderung

Mit einem grandiosen Wahlergebnis zieht die Piratenpartei in das Berliner Abgeordnetenhaus ein: 9,0 Prozent sagt die ARD-Hochrechnung von 21:40 Uhr. Gerechnet hatte mit einem Erfolg in dieser Größenordnung niemand; auch die Piraten nicht, denn sonst hätten sie ein paar Kandidaten mehr aufgestellt. Im Moment sieht es so aus, daß sämtlich 15 Kandidaten der Landesliste Parlamentssitze erhalten.

Der Erfolg in Berlin ist für die Piratenpartei ein gewaltiger Durchbruch, bringt er sie doch bei vielen Wählern (und Nichtwählern!) auf den Schirm – bei manchen erstmals, bei manchen erstmals richtig. Wer noch nie etwas von der Piratenpartei gehört hatte, weiß jetzt mehr. Wer die Piraten noch nie gewählt hat, »weil das ja doch verschenkte Stimmen sind«, wird das ab heute anders sehen.

Der Berliner Wahlerfolg ist ein Leuchtturm und ein Orientierungspunkt für ganz Deutschland. Er ist eine Riesenchance für die Piratenpartei bei kommenden Wahlen – in anderen Ländern, im Bund und in den Kommunen sowieso! Gleichwohl wird sich das Ergebnis andernorts nicht leicht wiederholen lassen, denn was in Berlin ankommt, trifft andernorts noch lange nicht auf Zustimmung.

Gleichzeitig ist Berlin eine Riesenherausforderung für die Piratenpartei. Denn nun werden die Menschen genau hinschauen und gucken, was die Piraten machen und wie sie es machen. Lernen und Einarbeiten ist angesagt, dann vernünftige, solide Politik für Berlin. Wer die Piraten nur aus Protest gewählt hat – und das sind die allermeisten –, will zu Recht eine Bestätigung.

Das muß jetzt laufen, und ich denke, es wird laufen – mit frischen Ideen und mit Beteiligung der Bürger. Berlin ist die Chance für die Piratenpartei – vielleicht die einzige.