Koichi Tanigawa: von Hiroshima nach Fukushima

»Zieh doch nach Fukushima!« Diesen Spruch höre ich gelegentlich von Atomkraftgegnern, die meinen, damit das ultimative Argument gefunden zu haben. Der Notfallmediziner Dr. Koichi Tanigawa hat genau das getan. Er zog von Hiroshima nach Fukushima, um dort zu helfen. Seine Beweggründe erläutert ein Beitrag im medizinischen Fachmagazin „The Lancet“.

Fukushima – der Name dieser japanischen Präfektur steht für eines des größten Nuklearunglücke weltweit. Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Magnitude 9 die ostjapanische Küste. Ein dadurch ausgelöster gewaltiger Tsunami verwüstete Städte, Dörfer und Infrastruktur. Vier von fünf Krankenhäusern in Iwate, Miyagi und Fukushima wurden schwer beschädigt. 18.468 Menschen kamen ums Leben, davon 1.814 aus Fukushima.

Foto: Das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi wurde am 11. März 2011 von einem Tsunami überflutet.

Das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi wurde am 11. März 2011 von einem Tsunami überflutet. Foto: TEPCO

Der Tsunami setzte auch die Notstromversorgung des Kernkraftwerks Fukushima-Daiichi außer Betrieb. Sie war nach dem Erdbeben und dem Ausfall der externen Stromversorgung des Kraftwerks ordnungsgemäß angesprungen, aber nicht gegen einen Tsunami dieser Höhe ausgelegt. In der Folge kam es in den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 zu Kernschmelzen sowie zu Wasserstoffexplosionen in den Reaktorgebäuden 1, 3 und 4. Aufgrund der hohen radiologischen Freisetzungen ordnete die japanische Regierung die Zwangsevakuierung der Menschen im Umkreis von 20 km um das Kernkraftwerk herum an. Bürger im 30-km-Umkreis sollten die Gegend freiwillig verlassen oder zumindest in ihren Häusern bleiben. Doch zahlreiche Menschen kamen ums Leben – nicht etwa durch die Radioaktivität, sondern durch die Evakuierungsmaßnahmen, die eigentlich Leben schützen sollten.

»Der Unfall in Fukushima hat mein Leben verändert«, sagt Dr. Koichi Tanigawa. Zum Zeitpunkt des Unglücks befand er sich 900 km entfernt in Hiroshima, wo er an der dortigen Universität lehrte und die Fakultät für Notfall- und Intensivmedizin leitete. Außerdem fungierte er als Stellvertretender Direktor des Zentrums für Strahlenmedizin. Zwei Tage später flog Tanigawa nach Fukushima, um dort das Strahlennotfallteam zu leiten.

Foto Dr. Koichi Tanigawa

Dr. Koichi Tanigawa. Foto: The Lancet

»In den ersten Tagen war es sehr schwierig, die Kommunikations- und Leitungsstrukturen zu etablieren«, erinnert sich Tanigawa. Der Notfallplan des Kernkraftwerks beruhte auf einem 4 km entfernten Klinikzentrum. Allerdings stand das nach der Evakuierungsanordnung nicht mehr zur Verfügung. Tanigawa und seine Kollegen mußten ihr neues medizinisches Hauptquartier in der 60 km entfernten Stadt Fukushima einrichten.

»Es gibt nicht viele Menschen in Japan, die über vergleichbare Fachkenntnisse verfügen«, macht der Radiologe und Nuklearmediziner Dr. Rethy Chhem deutlich. Zur Zeit des Unglücks war er bei der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien tätig und stand mit Tanigawa in Kontakt. »Für mich ist Koichi ein Held.«

Tanigawa kritisierte scharf die überstürzten und unkoordinierten Maßnahmen zur Evakuierung der 20-km-Zone am 13. und 14. März 2011. Besonders die Patienten in den Krankenhäusern hatten darunter zu leiden. Viele wurden mit Militärhubschraubern aus der Evakuierungszone ausgeflogen, ohne medizinische Betreuung während und nach der Evakuierung.  Die übrigen Patienten steckte man zusammen mit gesunden Einwohnern in Polizeibusse und transportierte sie ab. Da nicht klar war, wohin es eigentlich gehen sollte, wurden sie spät in der Nacht erstmal in einem Versammlungsraum des Soso-Gesundheitsamts untergebracht, rund 25 km nördlich von Fukushima-Daiichi, wo die Menschen ohne Heizung und medizinische Versorgung ausharren mußten. Viele mußten über 24 Stunden lang in den Fahrzeugen bleiben – in der Kälte, ohne Essen, ohne Trinken und ohne medizinische Versorgung. Während der Evakuierung oder kurz danach verstarben 60 Patienten an Unterkühlung, Dehydrierung oder an der Verschlimmerung ihrer eigentlichen Erkrankung. Zwei Jahre später zählte Japan neben den direkten Todesopfern durch Erdbeben und Tsunami in Fukushima 1.656 Tote durch Streß und sonstige Ursachen, die mit den Ereignissen des März 2011 zusammenhingen.

Durch die Strahlung selbst kam niemand ums Leben. »Auch 48 Stunden nach der ersten Explosion waren keine wesentlichen Kontaminationen an den evakuierten Patienten zu finden«, erläutert Tanigawa. »Der Aufenthalt in Innenräumen stellt also einen effektiven Schutz vor einer radioaktiven Wolke dar.« Die Strahlung bedeutete also keine unmittelbare, lebensbedrohliche Gefahr, die Sofortmaßnahmen erforderte. Anders die schlecht vorbereitete und überstürzt durchgezogene Evakuierung: Sie erhöhte das Risiko für Kranke und Alte beträchtlich. Tanigawa empfiehlt, Evakuierungsmaßnahmen nach Nuklearunfällen für diese Personengruppen sorgfältig zu planen und unter medizinisch angemessenen Bedingungen in Ruhe durchzuführen.

Viele Menschen reagierten jedoch mit übertriebener Angst auf die Strahlung, so Tanigawa. »Ich mache allerdings niemandem einen Vorwurf, weil wir zu diesem Zeitpunkt keine hinreichenden Informationen über das Strahlungsniveau hatten.«

Tanigawas Kritik an der Evakuierung sei wichtig und richtig, meint Dr. Kristi Koenig, Professorin für Notfallmedizin und öffentliche Gesundheit an der University of California in Irvine. Es spreche für Tanigawas Charakter, die Mißstände der Evakuierung an die Öffentlichkeit gebracht zu haben, ohne Rücksicht darauf, womöglich sich selbst oder sein Land in Verlegenheit zu bringen. »Er ist ein Anwalt der Menschen, die nicht mehr für sich selbst sprechen können, wie etwa diese Alten«, sagt Koenig.

Im Jahr 2002 war der Notfallmediziner Tanigawa dem Ruf an die Universität Hiroshima gefolgt. Zu dieser Zeit hatte er bereits begonnen, sich auf Strahlenunfälle und Strahlenunfallmedizin zu fokussieren. Dieses Spezialwissen führte zu seiner Aufgabe in Fukushima.

Doch es sollte nicht bei einem vorübergehenden Einsatz bleiben. Die Erfahrungen, die Tanigawa mit der chaotischen und inhumanen Evakuierung machte, trieben ihn dazu, sich ganz Fukushima zu widmen und von Hiroshima dorthin umzuziehen. Seit März 2015 ist er Vizepräsident der Medizinischen Universität Fukushima und Stellvertretender Leiter des von der Universität gegründeten Fukushima Global Medical Science Center.

Dieser Bereich der Universität kümmert sich um das wissenschaftliche Langzeitmonitoring der Betroffenen hinsichtlich Strahlenexposition und Gesundheit sowie um Forschung und Lehre in Katastrophenmedizin und speziell Strahlennotfallmedizin. Außerdem setzt sich das Zentrum für die Ansiedlung medizinischer Unternehmen in Fukushima ein, um hier einen medizintechnischen Schwerpunkt und hochqualifizierte Arbeitsplätze zu schaffen. »Koichis Beitrag dazu ist herausragend«, sagt Kristi Koenig. »Er ist einer der leidenschaftlichsten Menschen, die ich in diesem Fachgebiet kenne.«

Quellen

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