In der vergangenen Woche fand der Artikel »Gestörtes Geschlechterverhältnis durch Atommüll« des österreichischen »Standard« besondere Aufmerksamkeit. Die Autorin Julia Herrnböck bezieht sich auf die Untersuchung »Verlorene Mädchen« des Biostatistikers Hagen Scherb. Er hat das Zahlenverhältnis zwischen lebendgeborenen Mädchen und Jungen untersucht. Gestört sei es, dieses Zahlenverhältnis, meint Scherb, und zwar im Umkreis von 40 km um das Transportbehälterlager Gorleben herum, in dem hochradioaktiver Atommüll zwischengelagert ist.
Auf 109 Geburten von Jungen kämen nur 100 Mädchen. Vor der Einlagerung des Atommülls jedoch seien es 101 Jungen auf 100 Mädchen gewesen. Da wir es hier nicht mit absoluten, sondern mit relativen Zahlen zu tun haben, können wir mittels Dreisatz und Rundung auch sagen, daß 109 Jungen auf 108 Mädchen kamen.
Acht verlorene Mädchen
Die Tabelle zeigt die Zahlenverhältnisse etwas übersichtlicher:
Jungen: | Mädchen: | Verhältnis Jungen zu Mädchen: | |
---|---|---|---|
Ohne Atommüll: | 109 | 108 | 1,01 |
Mit Atommüll: | 109 | 100 | 1,09 |
Differenz: | 8 Mädchen weniger |
Acht Mädchen fehlen! Das sei wohl auf bestimmte, noch nicht verstandene Effekte radioaktiver Strahlung zurückzuführen, vermutet Scherb. Für die Atomkraftgegner ein gefundenes Fressen: Der böse Atommüll läßt die Mädchen gar nicht erst zur Welt kommen, sondern tötet sie bereits im Mutterleib. Oder so ähnlich.
Doch schauen wir uns die Zahlen etwas genauer an. Der Standard-Leser vermutet vermutlich, daß im Durchschnitt genauso viele Mädchen wie Jungen geboren werden. 101 Jungen auf 100 Mädchen – das wirkt recht plausibel. Ein Unterschied von 1? Das sind statistischen Schwankungen.
Ungleiche Geschlechterverteilung
Indes, der Leser irrt. Die Geschlechterverteilung ist überhaupt nicht gleich. Vielmehr werden weltweit 1,05 mal mehr Jungen als Mädchen geboren. In Deutschland sind es sogar 1,06 mal mehr Jungen.
Falls Gorleben vor der Einlagerung des Atommülls dem bundesdeutschen Durchschnitt entsprach, dann hätten auf 100 Mädchen 106 Jungen kommen müssen. Es waren aber nur 101. Wo sind die anderen fünf? Warum fehlen diese Jungen? Der Atommüll ist jedenfalls nicht schuld, denn der ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht da.
Atommüll und die Jungen
Wie auch immer. Später kommen die Atommülltransporte. Sie bringen Castor-Behälter mit gebrauchten Brennelementen nach Gorleben. Und siehe da: Die Überlebensfähigkeit der Jungen im Mutterleib steigt. Die fehlenden fünf Jungs kommen zur Welt. Und nicht nur das: Es werden noch drei weitere geboren!
So sieht das übersichtlich in Zahlen aus:
Jungen: | Mädchen: | Verhältnis von Jungen zu Mädchen: | |
---|---|---|---|
Ohne Atommüll: | 101 | 100 | 1,01 |
Mit Atommüll: | 109 | 100 | 1,09 |
Differenz: | 8 Jungen mehr |
Diese zweite Tabelle enthält im Grunde dieselben Angaben wie die erste Tabelle, nur sind die Werte diesmal auf die Mädchen normiert statt auf die Jungen.
Nehmen wir für einen Moment an, daß tatsächlich ein Kausalzusammenhang zwischen Atommüll und Geschlechterverteilung bestünde. Was können wir dann über die Auswirkungen des Atommülls sagen? Er wirkt sich überaus positiv für die Jungen aus!
Mehr Mädchengeburten in Mangeljahren
Interessant in diesem Zusammenhang ist der Artikel »Mehr Mädchengeburten in Mangeljahren«, der 2012 ebenfalls im »Standard« erschien. Danach kommen in Notzeiten, wie beispielsweise in Hungersnöten, relativ weniger Jungen als Mädchen zur Welt. Womöglich seien Mädchen anspruchsloser und überlebten in Notzeiten eher als Jungen, mutmaßt der Autor.
Ich behaupte nicht, der Atommüll habe in Gorleben eine Notzeit beendet. Ich behaupte auch nicht, die wohlig-warme, sanfte Strahlung aus Castor-Behältern rette Jungen vor üblem Tod im Mutterleib. Ich stelle überhaupt keinen Kausalzusammenhang zwischen Atommüll und Geschlechterverteilung her.
Dreisatztricksereien
Einen solchen Zusammenhang unterstellen bereits andere. Doch wie man sieht, sollte man mit solchen Behauptungen vorsichtig sein, wenn man seiner eigenen Sache nicht schaden will! Sonst kommt noch einer her, rechnet ein bißchen mit dem Dreisatz herum und schreibt von den »geretteten Jungen von Gorleben«. Oops!
Quellen
- Gestörtes Geschlechterverhältnis durch Atommüll, Julia Herrnböck, Der Standard, 2014-01-08
-
Umgebung des TBL Gorleben, Hagen Scherb et. al., Helmholtz-Zentrum München
- Geschlechterverteilung, Wikipedia, abgerufen am 2014-01-13
- Sex ratio, The World Factbook, Central Intelligence Agency (CIA), abgerufen am 2014-01-13
- Mehr Mädchengeburten in Mangeljahren, Der Standard, 2012-03-28
vielleicht könnte mann auch einen Beitrag zu einer anderen Studie schreiben, nämlich der Kinderkrebsstudie, die alzu oft bei Argumenten von Atomgegnern auftaucht…
Ja, das sollte man! Hier ein Beitrag, der zumindest in die gleiche Richtung geht: Das Kernkraftwerk im Hinterhof: keine große Sache.
Diese Studien gibt es in diversen Varianten seit den frühen 70er Jahren. Sie ist ein Beispiel für gezielte Desinfomation…
Bei einem seltenen Ereignis, z.B. es gewinnen in 4 Wochen 2 Hamburger im Lotto, könnte man behaupten dass die Hälfte aller Lottogewinner Hamburger sind. Ähnlich kann man bei einer seltenen Krankheit durch eine Auswahl der Stichprobe beliebige Ergebnisse erzielen. Es gibt in Deutschland jährlich etwa 600 Kinderleukämiefälle. Wenn Sie sich die Mühe machen die Studie sorgfältig zu lesen wird dies in Punkt 4.4 der Diskussion auch durch die Autoren bestätigt.
…..“Unter diesem Blickwinkel von insgesamt 29 geschätzten attributablen Fällen, wären also geschätzte 20 Fälle Leukämien. Dies ist ein wesentlich höherer Anteil, als Leukämien an kindlichen Krebserkrankungen insgesamt haben (ca. 30%). Diese Schätzungen sind wegen der zugrunde liegenden kleinen Fallzahlen mit erheblicher Unsicherheit behaftet“……
Der Leiter des BfS (Bundesamtes für Strahlenschutz)Wolfram König wurde von Trittin aufgrund seiner gefestigten, ökologischen Ansichten zum Leiter des BfS berufen. Wolfram König steht hinter der Studie und bezeichnet sie als belastbar (aufgrund seiner beruflichen Kenntnisse möglicherweise mit einem Randstein). Das BfS mit seinen Strahlenschutzfachleuten distanziert sich jedoch klar von dieser Studie Der Bericht gibt die Meinung der Autoren wieder. Diese muss nicht unbedingt mit der des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit oder des Bundesamts für Strahlenschutz übereinstimmen.
Da die Ansichten der erfahrenen Strahlenschuetzer den ökologischen Dogmen nicht entsprachen wurde hier eine „Expertenkommission“ eingesetzt.
Kernkraftwerke stehen in der Regel nahe von Flüssen oder dem Meer. Die natürliche Strahlung ist dort wesentlich geringer als in Mittelgebirgen. Die Strahlung und die Abgabe von radioaktiven Stoffen aus Kernkraftwerken in die Umwelt ist gering. Durch geschickte Auswahl der betrachteten Zone, im 15 Km Umkreis der umweltfreundlichen Kernkraftwerke ist wiederum keine Häufung der Zahlen an Kinderlaeukaemie festzustellen, hat man das gewünschte Ergebnis erzielt.
Ich finde Eure Deutungs- bzw. Umdeutungsversuche insofern problematisch, als dass Ihr damit dieser „Studie“ eine Deutung andichtet, während sie in Wahrheit (be)deutungslos ist! Denn all diese „Studien“, vermeintliche Befunde etc. stoßen sich an einer für die gesamte Anti-A-Bewegung äußerst peinlichen Tatsache*), nämlich der, dass es unzählige Strahlensemittenten gibt – anthropogen oder auch natürlich – die unter radiotoxischen Gesichtspunkten weitaus gefährlicher sind, als die Gegenstände solcher Abhandlungen; zu deutsch, sie „strahlen“ weitaus mehr.
So herrscht beispielsweise in der Nähe von Kohlekraftwerken eine Strahlung, die diejenige von Gorleben fast immer um das 2 bis 3-fache übersteigt, während es im Schwarzwald-Kurort Menzenschwand bereits das 50-fache ist – von den Stränden in Espirito Santo, Kerala oder gar Ramsar ganz zu schweigen. Und wenn man solche Orte auf die jeweils unterstellten Effekte abklopft, dann siehe da, nix da. Es gibt weder Geschlechterverschiebung noch Kinderkrebs-Häufung, es gibt keine Monsterbarsche, keine ohrenlosen Mäuse und auch keine Schrumpfung von Schmetterlingsflügeln. Ob es eine Gehirnschrumpfung bei der nicht dauerhaft in Gorleben ansässigen Bevölkerung gibt, ist freilich noch nicht untersucht worden ;-).
Insofern sollte man es einfach ignorieren. Diese „Studie“ wird das gleiche Schicksal ereilen, wie seinerzeit die KiKK-Studie: Am Ende war es eine unsterbliche Blamage für die „Forscher“ und ein immenser Schaden für die deutsche Wissenschaft. OK, diesmal wird es die österreichische sein, aber tröstet uns das wirklich?
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*) Der BUND zählt beispielsweise die „Radioaktivität aus den Tagebauen“ zu den „meist verschwiegenen Gefahren“: http://www.bund-nrw.de/themen_und_projekte/braunkohle/braunkohle_und_umwelt/radioaktivitaet_aus_tagebauen
Tja, vielleicht kam mein Beitrag etwas zu seriös daher. Vielleicht ist mein Satz »Ich stelle überhaupt keinen Kausalzusammenhang zwischen Atommüll und Geschlechterverteilung her« irgendwie untergegangen. Vielleicht kann man ohnehin alles viel kürzer fassen: Ex falso quodlibet.